Immo entschied sich nicht; ES entschied sich, irgendetwas in Immo entschied sich, dem Wegweiser nach Bergen-Belsen zu folgen. Zunächst kam es Immo so vor, als hätte er in Bruchteilen von Sekunden die Entscheidung, zur Gedächtnisstätte zu fahren, selbständig getroffen. Als er die Autobahn verließ, vergegenwärtigte er, daß er noch dreißig Kilometer zu fahren hatte, um sein neues Ziel zu erreichen. Während er an den Wohnmobilen der Straßenhuren vorbeifuhr, rechnete sein Kopf unermüdlich, ob er sich dieses Abenteuer leisten konnte. Sein Zeitplan war an diesem Tag knapp organisiert.
Doch Immo war neugierig. Er hatte es gelernt, den ersten Impuls wahrzunehmen. Und er hatte noch länger gebraucht zu lernen, dem ersten Impuls Energie zu geben. Einen tieferen Sinn schien der erste Impuls an diesem Tag nicht zu haben – vordergründig betrachtet. Immo mochte es nicht, etwas zu tun, was vielleicht nur auf der dritten oder vierten Metaebene einen Sinn haben könnte. Dieser Impuls war klar und besaß eine gerichtete Energie. Weil Immo die Energie als seine eigene Energie wahrnahm, entschloß er sich zu vertrauen. Auch wenn die Zerstörung seines Zeitplanes ernsthafte Konsequenzen mit sich bringen könnte.
Nach vier Kilometern spürte Immo eine tiefe Traurigkeit in sich. Noch war er gespalten, denn er war geschult, feinstoffliche Energie über hunderte Kilometern hinweg wahrzunehmen. Bergen-Belsen. Die Geschichte des Konzentrationslagers, die Leiden unzähliger Opfer, war für ihn deutlich spürbar. Allerdings spürte er keinen aktuellen Zusammenhang in sich. Was trieb ihn also unabdingbar zu diesem Ort? Politisch hatte er sich viele Jahre mit dem Faschismus beschäftigt, hatte in einem antifaschistischen Workcamp in Esterwegen gearbeitet, hatte vor knapp dreißig Jahren eine Gedächtnisstätte in Warszawa besucht. Konnte er an diesem Tag seiner Intuition und seinem Höheren Selbst trauen? Oder suchte er nur Stoff für eine neue Geschichte?
Als er den schwarzen BMW auf dem Parkplatz neben zwei Reisebussen parkte, nahm er keine anderen Luxuslimousinen unter den vielen PKWs wahr. Obwohl es ein regnerischer Tag war, nahm er keinen Regenschirm mit. Wenn es regnen würde, würde es einen Sinn haben. Am Eingang wunderte er sich über die deutsche Kultur, die er eher als Nichtkultur empfand. Die Bäume waren mit schweren Kieselsteinen umgeben, die Gebäude ragten wie tot in die Landschaft; ihm erschien es, als seien sie lieblos am Skizzenbrett einer Architektengruppe entstanden. Er dachte an die Opfer.
„Entmenschlicht im Leben, entmenschlicht im Tod,“ fuhr es Immo in den Kopf. Ohne seine Gedanken zu intensivieren, orientierte sich Immo und fand in der Heide eine Stelle, um sich in die Vergangenheit einzufühlen. Die harten Panzersalven und das Knattern der MG-Schützen versetzten ihn siebzig Jahre zurück.
Plötzlich wußte Immo, warum er hier war. Den Ort kannte er aus seinem früheren Leben. Hier war er als Kind gestorben, ermordet worden. Eine innere Stimme gab ihm ein, den Tätern zu vergeben, doch Immo konnte nicht.
„Niemals,“ flüsterte Immo, „niemals.“
Zwei Tage später unterhielt sich ein Lichtwesen während einer Reikisession mit Immo.
„Ich habe dich nach Bergen-Belsen geführt. Ich möchte dir erzählen, wer ich bin. Und indem ich dir erzähle, wer ich bin, wirst du wissen, wer du im vergangenen Leben warst. Dann wirst du all das, was dir in diesem Leben widerfahren ist, besser verstehen.
Ich bin das ungeborene Kind eines jungen polnischen Mädchens, das hierhin verschleppt worden ist. Meine Mutter wurde von den Wehrmachtsoffizieren geschlagen, mißhandelt und vergewaltigt, schon lange, bevor ich gezeugt wurde. Eines Tages wurde sie schwanger. Sie erzählte mir immer wieder, daß sie mich liebgewinnen wolle, weil ich unschuldig sei. Anna, so lautete ihr Name, erbat sich Zeit. Ihre Qualen wuchsen von Tag zu Tag; nachts, spät nach Mitternacht, betete sie zu Maria Magdalena, der sie sich verbunden fühlte. Anna hatte ein gutes Gefühl zu der Frau, die Jesus gesalbt hatte. Sie erzählte mir, daß Maria die Frau von Jesus gewesen sei. Dann sang sie uns mit ihren weichen Stimme in den Schlaf.
Kaum war ersichtlich, daß ein Lebewesen in Annas Bauch wuchs, verschmähten sie die Offiziere und entzogen ihre Gunst – so nannten sie jedenfalls den Umgang mit meiner Mutter, der aus Alkohol und Sexgier bestand. Mein Vater, ein SS-Hauptmann, hatte geahnt, daß er derjenige war, der Anna geschwängert hatte. Mittlerweile hatte er andere Insassinnen zu seinen nächtlichen Gespielinnen gemacht; nur selten bedrängte er meine Mutter. Eines Tages, eine Stunde vor Sonnenaufgang, kam er zu Anna. Als sie sich ihm verweigerte, erwürgte er sie. In diesem Moment beschloß ich, in meinem nächsten Leben all die Gründe kennenzulernen, die Menschen zu diesen Greueltaten bewegen. All das Leid, das ich in dieser kurzen Zeit gespürt habe, aufzusuchen, um mich und alle anderen Opfer zu befreien. Um Licht in diese dunkle Zeit zu bringen.
Jetzt habe ich zu Ende gesprochen. Ich danke dir, daß du meiner Stimme gefolgt und nach Bergen-Belsen gefahren bist. Indem du mich kennst, lernst du ein wenig mehr über dich kennen.“
Immo ließ im Zeitraffer sein Leben vorüberziehen. Sah die Familie, in die er in diesem Leben inkarniert war; spürte die Gegenwart von Dana, seiner ersten Freundin. Und schließlich war er in der Lage, die Zusammenhänge in Worte zu fassen.
Immer wieder war er in seinem Leben Frauen begegnet, die mißhandelt und mißbraucht worden waren. Dana hatte geweint – und niemals konnte sie darüber sprechen, warum sie weinte -, um ihn in die non-verbale Kommunikation einzuweihen, um ihm mitzuteilen, was ihr verboten war, in Worte zu fassen. Jindra wäre ohne sein Eingreifen von einem starken und betrunkenen Kollegen im Watt vergewaltigt worden. Jelena hatte sich mit zahlreichen Abbrüchen beinahe selbst umgebracht.
Immo sah, wie er jahrzehntelang den Spuren des Faschismus gefolgt war, warum er eine Vorliebe für den Osten, für die Tschechoslowakei, für Polen und die Ukraine gewonnen hatte, warum er dorthin gereist war. Weit über alle Gedanken hinaus fühlte Immo, daß sein Leben einen tieferen Sinn hatte, als er es sich vorstellen konnte.
Auch an diesem Tag war Immos Zeitplan durcheinander gekommen. Doch das störte ihn nicht. Immo sah, wie sich sein Leben mit einer neuen Tiefe gestalten würde. Das Lichtwesen in ihm strahlte Vertrauen und Zuversicht aus.
Und doch stellte Immo sich die Frage: „Werde ich vergeben können?“