Nach dem Holocaust

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten nach dem Holocaust. Entweder wir tun alles dafür, dass das nie wieder geschehen kann oder wir machen uns schuldig, indem wir den kommenden Genozid nicht verhindern oder aktiv an ihm beteiligt sind. Meine Sichtweise ist radikal, und wer alles über das bestialische Grauen weiß, wird es verstehen.“

„Wenn wir wissen, wie wir die letzte Tür öffnen,“ sagte Janto zum Abschied, „wird die Angst vor gewissen Umständen durch Freude abgelöst werden. Ich kann es nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen, aber ich glaube an die Richtigkeit meines Handelns, an die Schönheit der Idee und die Relativität des Übergangs.“

Bei diesen Worten sah Janto gut aus; es schien, als ob er keine Ängste mehr habe und erinnerte mich an die Momente nach dem Meditieren, vor allen an jene Tage, an denen ich ekstatisch tanzte und mich drehte, immer schneller werdend, mit der Gewissheit, dass ich in mir selbst die Kraft finde, noch schneller zu werden und nicht dabei zu stürzen, um schließlich die Türen zu öffnen, in denen es für eine gewisse Zeit nur noch die Fülle eines Nichts und gleichzeitig das Reale geben wird.

Ich wusste, was Janto in den kommenden Stunden tun würde. Morgen bekomme ich sein Manuskript, das ich mit ihm lektorieren darf. „Inch’Allah,“ dachte ich, „wenn Gott es will.“ Dann stand Janto auf, um das zu tun, was er tun wollte.

„Breaking through to the other side,“ sagte Janto und sah mir dabei in die Augen. Dann ging er zur Tür, öffnete sie, ohne sich umzudrehen, wie er es sonst tat, und zugleich nahm ich ein fast unsichtbares Lächeln auf seinen Lippen und den Wangen wahr. „Ein ewiges Lächeln,“ hatte er mir einmal verraten, „kannst du nur mit dem Herzen erkennen. Du fühlst es genau, dass dieser Mensch, der auf diese Weise lächelt, eins mit sich und seiner Welt ist. Nur dein Herz kann es sehen.“

*****

Ein paar Stunden später öffnete ich Jantos Email. „Essenzen.“ Das war der Titel, den er seiner Arbeit gab. Es waren insgesamt elf Abschnitte, in denen er das reflektierte und kommentierte, was er erlebt hatte. „Eigentlich beruhte meine Inkarnation auf einem kosmischen Missverständnis.“ Der Satz barg eine Köstlichkeit, die dem Wesen Jantos entsprach, Geheimnisse zu entdecken, während er versuchte, sich selbst und das Leben zu verstehen. Ein einziger Satz, und jegliche NewAge-Ideologie wurde in Frage gestellt, mit einer Ernsthaftigkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass wir uns nicht die Eltern aussuchen, sondern dass wir durch die Geburt in eine Situation kommen, die mit zahlreichen Fragezeichen besetzt ist.

„Nicht dass mein Leben umsonst war,“ schrieb Janto, „aber ich war nicht da, wo ich sein wollte. Ich war auf der Suche nach meinem Mörder, nach dem Mann, der mich auf der Flucht aus Sobibor erschoss. Doch er hatte vom Namen her zwei Doppelgänger und ich war beim falschen Adressaten gelandet. Es war irgendwie ein kosmischer Witz, und dennoch war es gut so. Wenn ich ehrlich bin, wird es so besser gewesen sein.“

Die Einleitung überraschte mich, auch wenn seine jüngsten Arbeiten den Kern seiner Aussage bestätigten. Als ich daran dachte, dass Janto mit der Beschreibung seiner Mission hätte beginnen können, wurde mir klar, dass es seinem Wesen nicht entsprach, das Leben als determiniert zu betrachten. Janto war nicht so unwissend, um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins ignorieren zu können, nicht einmal im Rückblick, der kein Rückblick war, eher eine Vorausschau, oder besser gesagt, ein Einblick in ein Leben, das ein individuelles Leben werden sollte. Janto war keine Kopie seiner Eltern; ihm schien es gelungen zu sein, Seele und einen Hauch von Sternenwissen mit irdischem Sein in eine neue Form gebracht zu haben. Gelebtes Leben als permanenter Dialog mit dem Göttlichen in weltlichem Kontakt, im Erkennen und Durchdringen aller Dinge und Wesen – soweit es ihm und seinem Interesse entsprach und möglich war -, um zu eigenen Erkenntnissen zu kommen.

„Jedes Leben ist eine dynamische Begebenheit, kein Schicksal. Es handelt sich um ein Inkarnieren im Sinne einer Wiedergeburt, verbunden jedoch mit einer Intelligenz des Moments, eines Wissens, das mit dem Wandel der Zeit und der Menschen einhergeht. So ergriff mich ein tiefes Mitleid, als ich meinen Vater als Vater anerkannte. Als Kind hatte ich die Aufgabe, Kind zu sein, ein glückliches Kind, das alle Menschen im Herzen berührt, nur durch den Anblick, und durch das Handeln und die Art, sich durch das Leben zu bewegen. Ich liebte das Weibliche, und das schien mein Vater auch zu tun. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war ich von Frauen umgeben, von schönen Frauen und weniger schönen Frauen, von jungen Frauen und alten Frauen. Es war ein wunderbarer Ort, den ich als Paradies identifizierte und den ich rasch verlassen wollte, als ich meinen Irrtum bemerkte, dass mein Vater nicht mein Mörder war und dass das Paradies in Wirklichkeit eine Hölle war.“

Janto war acht Jahre alt, als der erste Schleier riss. Maya, der Schleier, der das menschliche Sein vom Sternenwissen trennte, oder besser ausgedrückt, als Janto wusste, dass sein Vater ein Mörder, ein Nazi war, absolut verunsichert in der Ausrichtung seines Lebens, erschüttert ob seines Seins, denn er war das Leben und der Vater der Tod, personifiziertes Morden, immer noch der kosmischen Verwechslung preisgegeben, dass der Vater der Mörder war, als die Befreiung aus dem Vernichtungslager begonnen hatte und ihn, Jantos vorherige Inkarnation, mit Maschinengewehrsalven erschoss, auf halben Weg zwischen Stacheldraht und dem Wald, der Freiheit bedeuten würde, auch wenn die Freiheit in den polnischen Wäldern nur relativ sein würde.

„Als ich erfuhr, dass mein Vater ein Nazi war,“ schrieb Janto, „wusste ich, dass das Wort Nazi ein Synonym für Mörder ist. Ich hatte den Zugang zum kosmischen Wissen, ohne zu wissen, dass ich mit der göttlichen Quelle verbunden war.  Doch meine Informationen konnten genauso gut aus einem morphogenetischen Feld kommen, aber die Intensität des Wissens war so klar, dass ich mir um die Glaubhaftigkeit der Information keine Gedanken machte. Mein Vater war ein Mörder. Darin bestand die Gewissheit, auch wenn das kindliche Naive den Schrecken abwälzen wollte, aber nicht wusste, wie es gehen würde, außer sich dem Grauen forschend anzunähern, nicht im Sinne von Gleichwerdung, sondern mehr als Anpirschen, als ein Erforschen der Anatomie der Seele eines Mörders, der wusste, was er tat, ohne zu wissen, was auf anderen Ebenen geschah.

Eine Seele müsste das Recht haben, sich seine Eltern auszusuchen, wenn ein Kind ein glückliches Leben haben soll. Wenn es das Große Geheimnis gibt (und ich glaube fest daran, dass Spirit existiert), so wird irdisches Leben andere Aufgaben haben, als uns mit der familiären Religion auf den Weg gegeben wurde. Mit siebzehn beschloss ich, den Faschismus entziffern zu wollen, den Holocaust und das Leben danach, auch wenn ich damals noch nicht genau wusste, was es bedeutete, das Böse in seinem gesamten Grauen zu verstehen, ohne zu wissen, dass ich die Grundlagen schaffen wollte, das traditionelle religiöse Wissen zu entmystifizieren, um zu einer Religiosität zu gelangen, die keiner fremden Macht dienen würde, sondern die Entwicklung einer Spiritualität auf der Basis eines Erkenntnisprozesses.“

Janto hatte zwei Krücken benutzt, Hilfsmittel, um in einer verklärenden Welt Inseln der relativen Wahrheiten zu schaffen, auch wenn er es etwas anders ausdrückt. Er schreibt, dass er Inseln betrat, auf denen er sich sicher fühlte. Eine Insel war der Wald als solches, eine Metapher, die in sich keine Metapher war, sondern ein lebendiger Raum, der ihn in das Göttliche entführte, ihn mit dem Göttlichen verband, ihn das Göttliche in den Dingen und Wesenheiten des Waldes erkennen und einen Hauch von Wahrhaftigkeit wahrnehmen ließ, auch wenn es mehr als eine Brise war, eher das Gefühl der Absolutheit des Freien und des Göttlichen, wenn auch nur in seiner tatsächlichen Relativität. Doch die Luft, die Janto damals atmete, war zwar schon vergiftet, von den atomaren Unfällen in Großbritannien und der Sowjetunion, aber sie hatte noch den Hauch des Freien, denn das Gift war nicht sichtbar, vielleicht auch nur in einer geringen Dosis. Und vor allem war Janto frei gegenüber dem Wald und der Luft, er begegnete dem Göttlichen unschuldig. Sobald er sich auf den Weg machte, befand er sich, und sei es nur für Stunden, in einer absoluten Form von Liebe. Diese Situation erschien Janto als absolute Freiheit von Zwängen, auch wenn ihm später klar wurde, dass es sich um eine relative Freiheit handelte.

*****

Janto hatte das Böse neu definiert, es entmystifiziert. Das Böse ist niemals Teil des Großen Geheimnis gewesen. Das ist seine Behauptung, die der Axiomatik aller Religionen widerspricht. „Das Böse ist ein eigenständiges Energiefeld, es hat irdische und kosmische Dimensionen. Wer nach dem Holocaust glaubt, dass das Böse als Teil Gottes definiert werden soll, hat kindliche Illusionen. Oder ist Teil des Bösen.“ Janto vertieft mit jedem Wort seine Ansicht, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass das Böse in seinem Wesen identisch ist mit einer grausamen Götterwelt. Jene Götter seien nicht identisch mit dem Großen Geheimnis. „Liebe kann niemals Hass sein.“ Das ist sein Glaube, das ist sein Wissen, das ist seine Ansicht über das Leben und die Liebe.

„Liebe ist etwas sehr Kostbares,“ fährt Janto fort, „und wenn ich Liebe sage, dann meine ich Liebe. Liebe ist eine Empfindung, ein sehr tiefes Gefühl, ein Zusammentreffen zweier Seelen, die sich verstehen – seelisch, emotional, psychisch und physisch. Ich habe lange und oft experimentiert, um herauszufinden, was meine Seele will. Ich habe Fehler gemacht, weil ich in der Matrix lebe und weil ich nicht vollkommen bin. Das kann ich mir verzeihen. Trotz dieser Fehler überwiegt das Schöne, das Zärtliche und das Erregende in all den Berührungen, die von Unschuld, Interesse und Verlangen waren, vorausgesetzt, dass es keine berechnende Wesenheit in dem Moment des ersten Kontaktes gab.“

Es war die Studentenrevolte, die Janto tief beeinflusste, nachdem er als Teil der Beatgeneration anfing, sich Dimensionen zuzuwenden, die seine Eltern nicht verstehen wollten oder konnten. Der Prozess war nicht leicht; immer wieder erforderte es, intuitiv Spuren aufzunehmen, Experimente zu wagen und mit den Widersprüchen, Einschränkungen und Tabus der Eltern zu arbeiten. Es gab Niederlagen und es gab Öffnungen, auch wenn Janto eingestand, dass er Angst vor seinem Vater gehabt habe, solange er im Haus seiner Eltern lebte.

„Es erschien mir wie absolutes Glück, als ich auszog. Ich hatte es geschafft, dem Tyrannen zu entkommen, auch wenn es lange gedauert hatte. Meine erste Wohnung war ein kleines Zimmer von sechs Quadratmetern, nicht über den Dächern von Paris, sondern über einer kleinen Stadt, die es bis heute nicht geschafft hat, sich zu entnazifizieren. Die Despotie bekam ein neues Antlitz, und obwohl ich keine Illusionen über diesen Staat hatte, musste ich irgendwie in diesem System leben.“

Auch wenn Janto von zärtlichen Vorstellungen über Liebe, Freundschaften und Sex erfüllt war, nahm er eine innere Diskrepanz wahr. Seine Seele ließ ihm Zeit, und das Gute schenkte ihm viele Begegnungen, die ihn wachsen ließen. Und, wie er es so schön nebenbei erwähnt, sein bester Freund wuchs mit, sein Spaßmacher, den er mochte und dennoch neu entdecken musste, nach all den Ansichten der Eltern, der Kirche und der Gesellschaft. Er wusste, was er tun wollte, und dennoch war sein Tun von Angst und Schuldgefühlen besetzt, egal, ob er allein mit sich spielte oder ob es ein gemeinsames Spielen war.

Janto beschreibt die Schönheit von Liebe und Sexualität trotz aller äußerer und innerer Einschränkungen immer wieder. Seine Freundinnen sind jung, und wie es lange Zeit scheint, waren sie ewig jung. „Sweet Little Sixteen, good morning little schoolgirl. Das war die Mystik jugendlicher Freiheit, die Ästhetik des aufbrechenden Seins, das Zärtliche, das Träumende und das Wilde einer jungen Frau,“ schreibt Janto, „auch wenn sich die eigenen Schatten von Tabus und Konditionierungen in der Nachbetrachtung als Bedrohungen skizzieren lassen.“ Sie waren erfinderisch, um Räume zu finden, die geeignet waren, der Erregung Ausdruck zu geben. Auf ihre Weise schenkte die Natur den Liebenden Ateliers des Fühlens – auf Mutter Erde, liegend und stehend, angelehnt (und gleichzeitig verbunden und geschützt) an Bäume. Inseln der Lust.

*****

Je älter Janto wurde, desto fataler machten sich die alten Muster und Ansichten seines Vaters bemerkbar. Gegen seinen Willen entfaltete sich das Patriarchalische in Konflikten, die zu Machtkämpfen ausuferten. Janto hatte seine Midlife-Crisis, als er dreiunddreißig war. Er war gespalten zwischen dem Libertären und dem Zwanghaften. „Mein Leben wurde zum Desaster, als ich keine politische Hoffnung mehr hatte, damals, als ich wusste, dass meine Genossen keine Freunde waren, sondern Roboter einer Macht, die nicht das Individuelle sehen wollte. Ich hatte einen Plan, wie ich meine innere Struktur verändern wollte, aber ich brauchte Zeit in einer Zeit, die sehr konfus war, in der die Gesellschaft zunehmend faschistoid wurde. Die öffentlichen Soldatenvereidigungen begannen.“

Janto war zu alt, um mit jungen Frauen Freundschaften zu schließen. Es war eine Mischung aus Tabu, Verhaltenskodex und Zufall, der ihn in eine neue Welt führte. Eigentlich hatte er keine Chance, sich zu verwirklichen, weil er nichts über sein göttliches Selbst wusste. Es war die Mutter seines ersten Sohnes, die unaufhörlich auf ihn einhämmerte, um ihn wachzumachen. Sie brachte ihm bei, wie wichtig es ist, ehrlich zu sein, über sich selbst zu reden und sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Janto war fasziniert, doch sein innerer Vater, sein Über-Ich torpedierte die neue Entwicklung. Er war noch nicht in der Lage, ein Leben zu leben, das Gleichberechtigung, Selbstdarstellung, Kommunikation und bedingungslose Akzeptanz bedeutete. Er war von inneren Mauern besetzt, er war charakterlich gepanzert.

„Wenn ich heute von Neuem anfangen könnte, würde ich vieles anders machen. Es war phantastisch, all diese Erfahrungen mit den schönen, intelligenten und jungen Frauen zu machen. Innerlich habe ich ein Buch über Liebe, Freundschaft und Sex geschrieben, und wenn ich es machen könnte, wäre ich glücklich. Die kommenden Veränderungen wird wohl von jungen Frauen und Männern ausgehen, die keine teuren Tantrakurse besuchen. Tantra ist so leicht, dass es dafür keine Lehrer und Lehrerinnen geben muss. Tantra basiert auf Freundschaft, während Tantrakurse immer etwas Objekthaftes besitzen. Poona und Egmont basieren auf dem Prinzip der monetären und sexuellen Ausbeutung; die Gurus sind Zuhälter, und die Jungs und Mädels müssen für ihr sexuelles Vergnügen teuer bezahlen. Daraus kann nur Unheil entstehen.“

Auch wenn Janto die faschistoide Matrix des Osho Bhagwan Rajneesh negiert, halfen ihm die sogenannten aktiven Meditationen, die er fand, als er sich für das Leben entschieden hatte. Einerseits war seine Arbeit im Einflussbereich des verstorbenen Gurus investigativ, andererseits war Janto fasziniert von der Möglichkeit, sich von alten Konditionierungen selbst befreien zu können. „Es war intensive Arbeit,“ so Janto, „mein Höheres Selbst und Spirit halfen mir in diesem Prozess, mein göttliches Selbst wiederzufinden. Und das Wichtigste – trotz alledem habe ich mein Mitgefühl nicht verloren. Es hätte auch anders ausgehen können, indem ich ein NewAge-Roboter geworden wäre. Ich war zu politisch, um nicht Teil der Neuen Weltordnung zu werden.“

*****

Weil wir ganzheitliche Wesen sind, können wir irgendwann die essentiellen Erkenntnisse integrieren. Das ist sowohl Jantos als auch meine Ansicht und wir sind darin zuversichtlich, weil wir holistische Wesen sind. Wenn Janto gehen wird, so hat er mir mitgeteilt, gibt es für die jungen Generationen viel zu tun. Die Menschen, die ihn lieben, werden um ihn trauern, auch wenn sie sich seiner Liebe gewiss sein dürfen. Es wird ein Wechselspiel von Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit auf sie zukommen.

„Und dann der große Traum von Freiheit,“ schreibt Janto zum Schluss, „ich würde empfehlen nach Summerhill zu fahren und sich infizieren zu lassen von einer Idee, die großartig ist. Dann kommt die Ethik mit ins Spiel. Jeder sollte sich ehrlich die Frage stellen, wie unser Planet eine „Summerworld“ werden kann – und gleichzeitig abwägen, was es braucht, um das Leben einer bösen Matrix zu beenden.“

Für Janto ist die Entscheidung für sein kommendes Leben klar. Während ich die Email noch offen lasse, schaue ich mir seine Artikel zu Sobibor noch einmal genau an. Die Befreiung aus dem Vernichtungslager hing von zwei Faktoren ab. Die Aufständischen wussten, was die Nazis taten und tun würden. Und sie hatten sich dafür entschieden, frei sein zu wollen. Es gab keinen anderen Weg: Klarheit über die Situation. Klarheit über sich selbst, über die Liebe und über die Freiheit. Wenn ich Janto richtig verstehe, so lässt sich sein Weg als Notwehr verstehen, frei von Hass und erfüllt von der Liebe zum Leben. Du musst die Architektur der Angst verstehen wollen, wenn du immer noch nicht entschieden bist, das zu tun, was getan werden muss.

Ein zukunftsweisendes Gespräch.

Drei Monate nach dem Schlaganfall traf ich meinen lieben Kollegen Janto Hayen in der Käseglocke, einem Café am Rande des Hohen Meißners. Er hatte gute Laune, und das ist grundsätzlich etwas, was unsere gemeinsame Schnittmenge bildet. Wir bezeichnen es als spirituelle Fröhlichkeit, ein fast irrealer Zustand, der den widrigen Umständen des Lebens nicht gerecht wird.

„Sind wir Entertainer der Leichtigkeit?“ fragte mich Janto im Viertelrund des Kaffeeraums nahe der Feuerstelle. Er sah, dass ich leicht nickte und anfing zu schmunzeln. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde,“ fuhr er fort, „und so möchte ich dich bitten, mich zu interviewen, damit ich leichter Abschied nehmen kann, wenn es denn so sein sollte.“ Janto blieb vage, und ich wusste nicht, ob ich mich über sein Vertrauen freuen oder meine Melancholie nachfühlen sollte. Ich fand es interessanter, Fragen zu stellen. Er hatte ebenfalls einen Schlaganfall erlitten.

„Könntest du gehen, ohne etwas zu vermissen?“

Es schien so. Janto war ernst, doch er lächelte. „Ich habe wohl alles erlebt,“ antwortete er,  „was ein Mensch und ein Mann leben sollte. Ich habe einen Baum gepflanzt, ein großes Haus gebaut, ein paar Bücher geschrieben und zugesehen, wie meine Großmutter die Kühe gemolken hat. Ich liebe meine Kinder und ihre Mütter. Alle Frauen, mit denen ich zusammen war, haben einen Platz in meinem Herzen bekommen. Ich habe das Leben immer geliebt, auch wenn ich nicht finanziell reich war. Vielleicht war das sogar die Bedingung dafür, um in vielen Momenten grundlos glücklich zu sein, jedenfalls in diesem Leben. Mir kam es darauf an, das Geld ehrlich zu verdienen und möglichst wenig Steuern zu bezahlen. Es ist mir unmöglich, die Rüstungsindustrie der Matrix und ihren Unterdrückungsapparat in irgendeiner Weise zu unterstützen. Ich habe nach Nischen gesucht, um meinen Traum von Freiheit zu verwirklichen, auch wenn ich nicht in absoluter Freiheit gelebt habe.“

Dann grinste er und fügte hinzu, dass er Nischen gefunden habe. Gerne hätte ich seine Worte kommentiert, aber das hätte seinen Gedankengang gestört. Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder einmal zu nicken und mich von seiner Fröhlichkeit anstecken zu lassen. Dennoch wollte ich mehr über seine mögliche Entscheidung, und sei es nur eine Annäherung an seine Beweggründe, in Erfahrung bringen. Ich wollte gerade mein Statement formulieren, da begann er schon mit der Antwort. Es gibt wenig Menschen, die so sensitiv sind wie Janto.

„Körperlich geht es nur noch bergab mit mir. Tag für Tag verschlechtert sich meine Physis, ich kann nicht mehr richtig gehen, ich kann kein kontinuierliches Gleichgewicht spüren. Zuerst war meine rechte Seite betroffen, und da war es nur das Bein. Dann zogen die Schmerzen und eine gewisse Taubheit in den rechten Unterarm, bis sich eines Tages der Zustand auch im linken Bein verschlechterte. Ich habe seit einem Jahr keine Aufträge, und zugleich habe ich keine positiven Prognosen für die finanzielle Situation. Es gibt einen kleinen Schuldenberg, eigentlich ist es nur ein Hügel im Vergleich zu Leuten, die sich einen Mittelklassewagen mit einem Kredit anschaffen. Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist jedoch das Zusammenspiel bestimmter Interessen, die Hintermänner der politischen Szenerie, die Bilderberger und Illuminaten. Die Situation bedeutet Krieg und Faschismus, und zwar mit solch einer negativen Qualität, die noch schlimmer sein wird als das, was ab 1933 in Deutschland geschehen ist. Damals gab es noch Hoffnung, fliehen zu können, auch wenn es sich aus heutiger Sicht als Illusion herausstellte. Wilhelm Reich wurde in einem amerikanischen Gefängnis ermordet, Stefan Heym musste sich in der DDR seinen Weg bahnen, obwohl er nach Prag wollte. Keiner weiß, wie viele ehrliche Kommunisten im Einflussbereich von Josef Stalin ermordet worden sind.“

Wir unterhielten uns über unterschiedliche westliche Staaten, erinnerten uns an Woodstock, und machten einen Spaziergang in der hügeligen Landschaft, bevor wir eine Burg fanden, die die besten Voraussetzungen bot, unser Gespräch mit vertiefenden Sichtweisen weiterzuentwickeln.

2

Das Burgcafé war einmal eine alte Bauernschänke gewesen, die Atmosphäre hatte durch das dunkle Mobiliar etwas Schweres an sich, auch wenn die Besucher nicht rauchten. Die Menschen waren sich nah, und selbst dann, wenn leise gesprochen wurde, reichten wenige Stichworte aus, um den Gehalt eines Gespräches zu erahnen. Zwei Paare erregten meine Aufmerksamkeit, die eine Gruppe, weil sie miteinander schwiegen und sich still in die Augen schauten, die andere, weil sie zwar ruhig miteinander redeten, doch ein Konflikt schien die Situation zu überschatten. Ich war froh, dass sie würdevoll miteinander umgingen.

Janto entdeckte eine alte Bekannte und verabschiedete sich für kurze Zeit. Er liebt den intensiven Kontakt mit Frauen, selbst wenn er momentan keine sexuelle Ambitionen hat. Janto war vorsichtig geworden, weil er nicht genau wusste, ob er an einer bakteriellen Krankheit litt. Nach zwanzig Minuten saß er mir gegenüber, irgendwie verändert, mit einem Lächeln wie das einer Mona Lisa, auch wenn er nicht schwanger werden konnte.

„Ihr kennt euch,“ sagte er, bevor er sich setzte. Auf einmal erinnerte ich mich. Es war Cecil, und wir hatten vor zwanzig Jahre schöne Stunden miteinander verbracht, sehr nahe, wenn auch nicht sexuell. Es hätte vielleicht den Beginn einer Freundschaft darstellen können, wenn ich nicht misstrauisch gewesen wäre. Ich wollte die Kontrolle über den Lebensentwurf einer Frau haben, auch wenn das unmöglich ist. Cecil, die im Aufbruch begriffen war, nickte mir freundlich zu, als sich unsere Augen begegneten. So setzten Janto und ich unser Interview fort.

„Wie lange willst du noch leben?“

Kaum wahrnehmbar zuckte Janto mit den Schultern. „Ich habe es schon zweimal versucht. Die Methode nennt sich Sterbefasten. Nicht Essen, nicht Trinken. Es ist gut, um die Dimension Tod besser zu verstehen, es ist nichts Drastisches, keine Kurzschlusshandlung, etwas Sanftes, um zu schauen, was geschieht. In dieser Zeit besteht die Möglichkeit, das Leben zu reflektieren und zu fühlen, wie sich die Kräfte zwischen Tod und Leben verhalten. Ich habe gespürt, wie sehr ich das Leben liebe, und dass ich Tag für Tag Zeit habe, mich den Themen anzunähern, die ich sonst niemals bearbeitet hätte. Ich habe die Angst vor der Angst verloren, die Angst vor der Schere im Kopf. Wenn der Tod dein Freund ist, kannst du deine gesellschaftlichen Analysen ungeschminkt mitteilen. Indem ich ehrlich den Spuren und Impulsen folgte und die Kraft hatte, politische und spirituelle Konstellationen zu hinterfragen, konnte ich Erkenntnisse gewinnen. Ich glaube, dass meine Arbeit jetzt getan ist. Es handelt sich insgesamt also um zwei Aspekte. Zum einen die Ängste als Thema wahrnehmen. Und parallel ein konkretes Thema als solches. Meine Lebensaufgabe ist erfüllt, weil meine Erfahrungen in das kollektive Bewusstsein übergegangen sind. Es lassen sich Nischen finden, vorausgesetzt, dass ich auf Reichtum verzichten kann. Ich konnte meine Talente und Fähigkeiten erkennen, gestalten und vervollkommnen. Ich habe in Einklang mit meiner Vision gelebt, mit meiner Lebensaufgabe. Es wäre toll gewesen, wenn es mit der Revolution geklappt hätte, aber die Zeit war noch nicht reif. Heute weiß ich, dass es ohne große und langwierige Aufstände nicht gehen wird, auch wenn wir manchmal spirituell zaubern können und eventuell kosmische Verbündete haben. Doch die Lehren aus den Erfahrungen der Unterdrückten zeigen, dass die Matrix nicht unbegrenzte Ressourcen haben wird, weder materiell noch zeitlich. Die Mehrheit der Völker braucht neue Kommunikationsmodelle und Konzepte, um die Matrix zu stürzen. Gelingt dieser Prozess, so kann die Arbeit innerhalb einer Generation geschehen sein, vielleicht aber auch zwei oder drei. Das kann ich nicht erkennen, auch wenn ich eine neue Zuversicht erlangt habe. Aus meiner Sicht bin ich Kundschafter für die Zukunft gewesen.

Janto verblüffte mich mit seiner Analyse und Selbstdarstellung. Die Neuigkeiten wollten verstanden und verdaut werden. Wir ließen uns Zeit und aßen Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und Gurken. Auch wenn die Kellnerin erwartete, dass wir ein zünftiges Bier dazu trinken würden, blieben wir bei unserer Entscheidung. Alkoholfreies Kristallweizen hat durchaus einen guten Geschmack. Die Note des Gut-Drauf-Seins ist unabhängig von Rauschmitteln, nur es braucht Zeit, das zu erkennen und in die Tat umsetzen zu können.

Nach dem Essen wollte ich wissen, ob Janto zur Revolution aufrufen wollte, doch er mochte sich so nicht verstanden wissen. „Es kann auch zu Bewusstseinssprüngen kommen,“ meinte er. „Ich bin nur ein Mann in den besten Jahren und behalte meine Erkenntnisse für mich. Ich liebe friedliche Übergänge.“ Und dann wurde er still und verabschiedete sich mit einer Geschwindigkeit, die ich nicht erwartet hatte.


 

Matthes ist erfinderisch

Matthes hielt sich mühsam an einer Baumwurzel fest. Nichts ging mehr, das war sein vorläufiger Eindruck. Der Weg zurück zu einem rettenden Baumstamm war zu steil, um einfach loszulassen und ein paar Meter unkontrolliert im freien Fall zurückzulegen. Der Weg nach vorne zu einem anderen Baumstamm war noch steiler und steiniger.

Dreißig Meter entfernt stand Bella, ein kinderlieber Boxer, der ihn heute aufmerksam beobachtete, aber auch nichts anderes tun konnte als abzuwarten. Matthes spürte, wie seine Angst zu nahm und wie sein Atem stockte. Er erinnerte sich an einen alten Trick, schloß die Augen, atmete dreimal tief durch. Sein Atem mußte wieder zum Fluß werden, dann würde er auf eine Lösung kommen. Nur nicht denken, nur nicht die Augen aufmachen.

Die Zeit verlangsamte sich und plötzlich spürte Matthes, daß er wieder sicher war. Er beschloß, sich keine großen Gedanken über seine Kleidung zu machen. Daß würde zwar richtig Schelte geben, aber das nahm er in Kauf. Er legte sich mit seinem ganzen Körper auf die Erde und ließ die Baumwurzel los. Langsam rutschte er Stück für Stück nach unten. Mit seinen Händen krallte er sich fest in die Erde. Endlich spürte er einen Baum an seinen Füßen. Seine Rutschpartie war beendet. Er atmete tief durch.

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Meiner Spur folgen

Was passiert, wenn sich zwei Menschen begegnen? Sehen sich beide Menschen an, indem sie den Augenkontakt zueinander suchen? Oder gehen die beiden aneinander vorbei, obwohl sie dem Anschein nach zusammen in einem Raum sind?

Ein Portrait der Tanztherapeutin Lelia Strysewske
Von Burkhardt Nowak

Jeder Mensch hat Wünsche, Gedanken und Gefühle. Im gleichberechtigten Zusammenleben können alle Wünsche zum Ausdruck kommen, können Gedanken ausgesprochen und Gefühle gezeigt werden. Von Moment zu Moment – von Augenblick zu Augenblick – gestaltet sich dann eine Wirklichkeit, die sowohl eigene Bedürfnisse als auch das Wohlergehen des anderen Menschen ermöglicht. Doch was ist, wenn dieses Gleichgewicht zwischen dem Du und dem Ich nicht existiert?

Die Therapeutin Lelia Strysewske entwickelte in den vergangenen Jahrzehnten eine Kombination aus Tanz und Therapie, die es dem einzelnen Menschen erleichtert, seine eigenen Verhaltensmuster spielerisch zu entdecken, wahrzunehmen, anzuerkennen und je nach Wunsch und Situation zu verändern. Des Menschen Wunsch nach Selbsterkenntnis (Wer bin ich?) setzt die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung voraus.

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Über meine Texte

Als Burcado Nowak fünf Jahre alt war, wollte er Schreiben und Lesen lernen. Weil seine Mutter dagegen war, hatte er viel Glück und bekam ein Geschenk, das er erst viele Jahre später zu schätzen wusste. Das Nein der Mutter führte zu einer Lösung, die Zeit bedeutete. Zeit zum Spielen, Zeit zum Erkunden, Zeit zum Erleben. Man könnte auch sagen, er habe Pech gehabt, weil sein Interesse zur falschen Zeit ausgebremst worden war. Egal, wie man die Entscheidung der Mutter bewerten mag, es war so, wie es war.

1

Eine Lehrmethode des Kreativen Schreibens ist das Errichten einer künstlichen Blockade, einer Methode, die dem Stauen eines Flusses gleicht. Wasser lässt sich nicht wirklich stauen; tut man es, so wird der Lauf eines Baches für kurze Zeit angehalten, eine ungeheure Kraft staut sich an und schon bald bricht sie mit all ihrer Macht hervor, um die Blockade aufzulösen. Burcado hatte viele Lehrer, die den Fluss des Lebens aufhalten wollten; Deutschlehrer, Englischlehrer und Französischlehrer, beispielsweise.

Als er sich an Latein heranwagte, gab sich der Lehrer besonders streng und verbot jegliches Lachen im Unterricht. Eines Tages brach das Lachen aus dem jungen Schüler heraus; Grund genug für eine lange Strafarbeit, die ihm das Schreiben erst richtig vergällen sollte. Der Vorfall leitete eine lange Periode der Enthaltung ein, zunächst strich der Adoleszent das Fach Latein aus seinem Stundenplan, dann widmete er sich an vielen Tagen dem Nachempfinden des Lebens seines literarischen Heldens namens Tom Sawyer.

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With The Beatles

Seit ein paar Wochen spiele ich „With the Beatles“. Morgens zum Frühstück, Mittags zum Essen machen und Abends zum Abwaschen. Das Jahr 1963 brachte meine erste „erotische“ Verabredung mit sich. Alleine die Geschichte, wie sich alles in einem Volkswagen einfädeln ließ, könnte Dich auf eine Reise in Deine eigene Vergangenheit schicken.

Eigentlich wollte ich Dir nur schreiben, daß ich die Musik der Beatles immer noch sehr gerne mag und daß Du, falls Du keine Scheiben von ihnen hast, bei last.fm oder YouTube vorbei schauen kannst, um Deine Augen und Ohren verwöhnen zu lassen.

Eines Morgens – ich glaube, ich war gerade neun Jahre jung, fragte ich meinen Freund Tjard, ob er nicht vorne beim Herrn Pfarrer sitzen wolle. Damit Du die Zusammenhänge besser verstehst, sollte ich noch erwähnen, daß ich damals zu einer katholischen Minderheit im evangelischen Friesland gehörte. Deswegen kam der Kirchenmann mit seinem Volkswagen und holte seine Schäfchen ab; ohne uns zu fragen, ob wir denn wollten.

An diesem Morgen wußte ich, was ich wollte. Tjard wollte auch. Tjard wollte vorne sitzen. Ich saß auf der Rückbank; links neben mir saß Gesa, die ein Jahr jünger war als ich und rechts neben mir saß Inga, ein Jahr älter als ich. Wir verabredeten uns zum näheren Kennenlernen, zu einer natürlichen Entdeckungsreise der Geschlechter.

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2 (Die Seele)

“Er weiß es; ich spüre es ganz genau. In dem Moment, als wir uns in die Augen geschaut haben, weitaus länger, als es üblich ist, habe ich gemerkt, daß sich unsere Seelen kennen. Ich liebe es zu schweigen, weil ich seinen Gedanken zuhören mag, auch wenn er dabei nicht spricht und vorgibt, auf sein Notebook zu schauen. Was werde ich antworten, wenn er mir sagt, daß er mich kennt? Ich werde lächeln, und mein Lächeln wird die Antwort sein. Nach einer Pause werde ich sagen: Ja, ich kenne dich auch.”

Ich habe auf diesen Moment gewartet. Ich sehne mich nach Freiheit und ich sehne mich nach Verbündeten. Ein Mensch strahlt es aus, wenn er frei sein will, und dieser Mensch, der neben mir sitzt, wünscht sich nichts sehnlicher als absolute Freiheit. Er will, aber er weiß nicht, wie es geht. Ich kenne seinen Namen nicht, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns in diesem Leben kennenlernen. Ich werde ihm zuvor kommen, in seine Augen sehen und sagen, daß wir uns kennen.

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Cupidos Garten

„Ich flehe dich um Gnade an,“ flüsterte Maria lautlos, als sie die Tür des Hauptportals ihrer Schule öffnete, „Mutter Gottes, stehe mir bei, diesen Tag zu überstehen und beschütze Bjoerc, der mir praktischen Beistand leistet, auch wenn es nicht erlaubt ist.“ Maria überlegte auf dem dunklen Gang zum Klassenzimmer, ob sie etwas hinzufügen sollte. „Wenn es Frühling wird, werde ich Dir ein großes Beet mit Ringelblumen anlegen; das verspreche ich dir, egal wie die Note sein wird.“ Maria hatte noch nie mit der Gottesmutter ein Geschäft gemacht, und sie sprach immer aus dem Gefühl heraus. Sie lehnte Gebete als heuchlerisch ab.

Zehn Minuten später war sie erlöst. Frau Dr. Benneker, ihre Deutschlehrerin, die irgendwann den Spitznamen „Die Harnische“ erhalten hatte, war erkrankt. Das war ein Vorkommnis, das Maria noch nicht erlebt hatte. Für einen Moment dachte Maria darüber nach, ob Bjoerc nachgeholfen haben könnte, doch dann verwarf sie den Gedanken. Aus der Sicht der Stellvertreterin – eine junge Lehrerin, deren Namen sie vergessen hatte -, sollten sie sich dennoch an die Arbeit machen.

„Meinen Namen habt ihr nicht so oft gehört,“ sagte die Neue, „ich bin Renate Tietsch, ich habe Kunst und Deutsch in Oldenburg studiert, und ihr dürft mich duzen. Was mir genauso wichtig ist: Sagt niemals Fräulein zu mir. Ich bin eine Frau, auch wenn ich nicht verheiratet bin. Kommen wir nun zu dem Ereignis des Tages; ich habe mir überlegt, wie ich euch die Arbeit verständlich machen kann.“

Niemals zuvor hatte sich Maria bei einer Klassenarbeit so wohl gefühlt wie an diesem Tag. Renate Tietsch wollte es ihnen wirklich leichter machen.

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Hinter den Hügeln

Hinter den Hügeln der Vergangenheit, weit entfernt vom Hier und Jetzt, hinter langen Lebensphasen, irgendwo – fast im Dunklen – und irgendwie noch als Teil der Konditionierung erkennbar, die Schulzeit. Versunken im Meer der einstigen Unbewusstheit und des Unwohlseins wissen wir um Inseln des Wohlgefühls, heute nur noch mit den Booten eines Zeitreisenden erreichbar.

Noch gibt es kein kollektives Bewusstsein, noch trinken wir den Schlummertrank des Vergessens, nicht ahnend, wie vergiftend die Tat war, solange jedenfalls, bis wir die Pforten der Bewusstheit öffnen und Gift in Medizin verwandeln können. Die kollektive Frage nach dem Erinnern löst sich auf in die ursprüngliche Lebensaufgabe. Die essentielle Frage lautet: „Wer bin ich?“ und nicht „Wer bist du?“ oder „Wer sind wir?“

Solange das menschliche Bewusstsein nicht von bedingungsloser Liebe erfüllt ist, stellt sich die Frage, welche Bedeutung Begegnungen haben. Wenn zwei Menschen sich im Leben begegnen, so stehen sie – wenn sie in die Tiefe gehen wollen – vor der Aufgabe, den Raum zu leeren, ihn freizumachen von den jeweiligen Eltern, von den Verwandten und Ahnen, von den Geschwistern und Nachbarn, von den Lehrern und Idolen eines Lebenszeitraumes, in dem elementare Konditionierungen geschehen sind. Herzlichkeit, Natürlichkeit und Authentizität sind gesunde Spurenelemente auf dem Weg.

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Endlich Sex

„Papa,“ sagte Jeronimo, „ab der nächsten Woche haben wir Sexualkundeunterricht.“ Was sollte Janto Hayen zu dieser Nachricht sagen? In Gedanken ging er alle Lehrerinnen der Grundschule durch, doch er erinnerte sich nicht an ein einziges Wesen, das freudig erregt einen Tantrakurs buchen würde. Leider.

Doch wie sollte er seinem Sohn beibringen, was ihn in der Schule erwartete? Natürlich bräuchte er nichts kommentieren, denn Jeronimo Hayen blickte auch ohne ihn durch. Plötzlich war Janto von einem Gefühl beflügelt, sich in die Rolle eines zehnjährigen Jungen hineinzuversetzen. Er hatte Lust bekommen, eine kleine Theatervorstellung zu geben, und sein liebster Zuschauer hatte Lust auf eine Aufführung.

Sexualkunde? Wer konnte da schon Nein sagen? Bevor es losging, holte Jeronimo einen schwarzen Hut aus ihrer Requisitenkammer und überredete Janto, einen schwarzen Anzug anzuziehen. Dann würde er fast wie Pan Tau aussehen. Janto sträubte sich anfangs, nur aus Spaß, und weil er noch müde war, so kurz und schön war die vergangene Nacht mit seiner Freundin Danaé gewesen.

Die schwarze Melone, die Jeronimo immer herausholte, wenn ihm etwas wichtig war, hatten die beiden ein Jahr zuvor in dem tschechischen Filmstudio Barrandov gefunden, als sie sich auf den Spuren von Pan Tau befanden. Jeronimo hatte vor der Reise darauf bestanden, eine schwarze Melone anzuschaffen, die Janto bei ihrer Recherche für den Fall aller Fälle tragen sollte, um die richtige Melone gegen ihren Bowler Hat auszutauschen, falls es ihnen gelänge, die Melone zu finden, die Inspektor Malek in der 33. und letzten Folge dem Untergang preisgegeben hatte.

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Ein Ritual für Petra

Geister schicken keine Postkarten, wenn sie verreisen, nicht einmal, wenn sie im Land der Liebe und des Lichts angekommen sind. Das Einzige, was sie tun können, sind süße kleine Eingebungen für uns irdische Menschen zu senden, auch wenn sie frei sind und nicht darauf warten müssen, dass du dich bei ihnen bedanken wirst.

Petra war so freundlich und hat mir ihre Grüße aus himmlischen Gefilden geschickt, begleitet von deutlichen Bildern der Momente, als sie über dem Steuer lag, in beschützendem Koma, und der Momente, als ich meine Hand auf ihren warmen Rücken legte, auch wenn ich mich fragte, ob ich es tun darf, weil alle zuschauten, was ich tat. Ich tat es, und es war richtig so. Der Tod fühlte sich warm an – auch wenn ich verzweifelt war, denn ich wußte nicht, ob ich es richtig machte und ob es richtig war, dass ein junger Mensch jäh aus dem Leben gerissen wurde.

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